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18.2.2021
4 min
assoz. Prof. Dr. Andreas Oberprantacher

Die zwiespältige Sorge um Immunität

Immunität ist ein schillerndes Schlüsselwort der gegenwärtigen Pandemie, dessen Bedeutung zwiespältig ist.

// Auszug aus dem Wissenschaftlichen Jahrbuch 2020 //

Ein Schlüsselwort im Kontext des aktuellen pandemischen Geschehens ist das der Immunität. Es handelt sich um ein historisch schillerndes Wort, dessen Ursprung an Klauseln des römischen Rechts erinnert, sich an der Schnittstelle von rechtlichen Diskursen und medizinischen Studien entwickelte und gegenwärtig von Bedeutung ist, da sich verschiedene und zum Teil widersprüchliche Interessen um dieses Schlagwort gruppieren.

Wie der Philosoph Roberto Esposito, der sich mit dem Zusammenhang von Communitas (1998) und Immunitas (2002) befasst hat, betont, besteht der Sinn des „Mechanismus der Immunität“ darin, „daß er sich des Übels bedient. Daß er in kontrollierter Form genau das Übel reproduziert, vor dem Schutz bieten soll. […] Durch den immunitären Schutz bekämpft das Leben dasjenige, was es negiert, aber nicht in frontaler Gegenüberstellung, sondern gemäß einer Strategie der Überlistung und der Neutralisierung.“

„Durchseuchung“ und/oder „Schutzimpfung“

Dass der „Mechanismus der Immunität“ trotz (oder wegen) der Rhetorik des Schutzes ein mehrdeutiger, ja zwiespältiger ist, lässt sich dieser Tage schon dadurch erahnen, dass es im Prinzip zwei epidemiologische „Rezepte“ gibt, wie im Umgang mit der COVID-19-Pandemie Immunität erzeugt und eine sogenannte „Herdenimmunität“ erzielt werden könnte:

Einerseits ist vom Konzept der sukzessiven „Durchseuchung“ und einer natürlich erworbenen Resistenz die Rede, ein Konzept, das bereits im 18. Jahrhundert kursierte, sich zunächst einmal aber auf die partielle Immunisierung tierischer Populationen („Herden“) beschränkte, die eine Infektion überstanden hatten und sich in weiterer Folge als relativ resistent erwiesen.

Andererseits wird das Konzept einer künstlich erzeugten „Schutzimpfung“ debattiert, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts das epidemiologische Wissen revolutionierte, nachdem im Jahr 1796 von Edward Jenner ein erstes künstliches „Vaccine“ (von lat. „vacca“, Kuh) hergestellt und verabreicht werden konnte.

„Venienti occurite morbo“ als immunologisches Motto der Epidemiological Society, London
© Screenshot, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5511385/pdf/transepisoclond76093-0001.pdf (11.02.2021)
„Venienti occurite morbo“ als immunologisches Motto der Epidemiological Society, London

Die COVID-19-Pandemie als biopolitischer Testfall

Diese zwei Konzepte schließen einander nicht aus, selbst wenn sie von zwei verschiedenen Stoßrichtungen auf das gemeinsame Ideal der Immunität zusteuern und sich historisch nacheinander entwickelt haben. Sie bilden einen strategischen Verbund zur Bewältigung der sogenannten Corona-Krise, bedingen sich also gegenseitig. Die COVID-19-Pandemie ist insofern zum biopolitischen Testfall geworden, als mit einem mehrjährigen Zeitraum zu rechnen ist, bis eine Impfung Milliarden von Menschen Schutz vor einer Infektion mit dem Virus SARS-CoV-2 bieten könnte. Und bis dahin heißt es in immunologischer Perspektive: Leiden – als „Risiken“ definiert – auf die eine oder andere Weise in Kauf zu nehmen.

„Schau auf dich, schau auf mich“ – die Immunisierungskampagne der österreichischen Bundesregierung
© Screenshot, https://www.oesterreich.gv.at/public.html (11.02.2021)
„Schau auf dich, schau auf mich“ – die Immunisierungskampagne der österreichischen Bundesregierung

Trotz der wiederholt beschworenen und beworbenen Sorge um Immunität zum Wohle des Lebens wird der Tod unzähliger Menschen auch gegenwärtig in Kauf genommen, d. h. es wird kalkuliert und spekuliert, dass Menschen sterben werden. Selbst die wissenschaftlich reflektierten Strategien europäischer Staaten, die sich einer variablen Summe von Maßnahmen bedienen, um die (eigenen) Fallzahlen „überschaubar“ zu halten, bis ein Großteil der Bevölkerung verimpft ist, können katastrophale Effekte (für viele andere) haben, selbst wenn diese zahlenmäßig nicht so eklatant erscheinen mögen (oder gar nicht „gezählt“ werden).

Tweet des Künstler*innenkollektivs Peng! gegen die Akkumulierung des immunologischen Wissens
© Screenshot, https://twitter.com/Peng (11.02.2021)
Tweet des Künstler*innenkollektivs Peng! gegen die Akkumulierung des immunologischen Wissens

Zweischneidige Sorgen

Angefangen von der (sexuellen, psychosomatischen) Gewalt häuslicher Isolation über die miserable Lage von prekär beschäftigten „Schlüsselkräften“, sei es im Pflegebereich, in der Lebensmittelindustrie oder in der Logistik, bis zur rasanten Verelendung ganzer Regionen, drohenden Hungersnöten infolge von veränderten finanziellen und logistischen Prioritäten, der ungleichen Verteilung von Impfstoffen etc., gibt es eine Reihe von dramatischen Konsequenzen, die nur zu einem geringen Teil zur Diskussion gestellt, im Zuge des Notstandes hingenommen werden.

Es wäre indes tatsächlich fatal zu verdrängen, welche sozialen Läsionen zum Schutz der Bevölkerung gefordert oder geduldet, was für „Opfer“ am Altar namens Immunität heute erbracht werden. So gesehen sollte uns die Immunität tatsächlich Sorgen machen.

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Der vollständige Artikel wurde im Wissenschaftlichen Jahrbuch 2020 veröffentlicht.

Der heurige 13. Band gliedert sich in drei große Themenbereiche: die COVID-19-Pandemie aus verschiedenen wissenschaftlichen Blickwinkeln; Artikel der Teilnehmer*innen der Tagung „Die Kehrseite des Unsichtbaren“ im Zuge der Ausstellung „Vergessen“ im Ferdinandeum; und diverse Beiträge zu geistes- und naturwissenschaftlichen Themen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Tiroler Landesmuseen.

Wissenschaftliches Jahrbuch 2020
© TLM
Wissenschaftliches Jahrbuch 2020

Autor

assoz. Prof. Dr. Andreas Oberprantacher

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