Das „Lebendige Liederbuch“ des Andreas Wurzrainer
Dokument eines Sänger- und Musikantenlebens: eine außergewöhnliche Sammlung von Tondokumenten im Tiroler Volksliedarchiv und ihr Urheber.
// Auszug aus dem Wissenschaftlichen Jahrbuch 2020 //
Im Frühling 2012 gelangte ein Bestand ins Volksliedarchiv, der dort seinesgleichen suchte: Über 1.200 Lieder, Schnaderhüpfel und Jodler waren hier als Tonaufnahmen eingesungen und inklusive der Texte auf DVD gespeichert worden. Keine der – ohnehin nur spärlich vorhandenen – Tondokumentesammlungen aus privater Hand war je so umfangreich und konsequent angelegt worden.
Andreas Wurzrainer (* 1936) hatte sich nach seiner Pensionierung ein ambitioniertes Ziel gesetzt: sein gesamtes Liedrepertoire aufzunehmen und damit vor dem Vergessen zu bewahren. Nach rund acht Jahren Arbeit konnte er sein „lebendiges Liederbuch“ vorlegen, das nun Musikantenfreundinnen und -freunden und Interessierten als Anregung und Quelle diente und schließlich als eindrucksvolles Dokument eines langen Sängerlebens seinen Weg ins Volksliedarchiv fand.
Vom jodelnden Buben zum begeisterten Musikanten
Begonnen hat alles Ende der 1930er-Jahre in Itter, als der kleine Andrä als sechstes von zehn Kindern in eine musikalische Familie hineinwuchs. Schon damals konnte man den talentierten Buben oft von Weitem auf dem Kirschbaum beim elterlichen Bauernhaus Richtung Tal jodeln hören. Das gemeinsame Singen am Hof, in der angeschlossenen Jausenstation oder bei der Mahd am Feld hatten Andräs Begeisterung für die Musik ebenso entfacht wie die Einflüsse von Sängerinnen und Sängern bzw. und Musikantinnen und Musikanten aus der Umgebung. Nicht zuletzt prägten ihn seine Erlebnisse als Mitwirkender bei örtlichen Tanz- und Musikgruppen sowie der Musikkapelle, der er bereits als jugendlicher Musikant den kleinen Marsch „Frisch gewagt“ widmete.
Steckenpferde Blasmusik, Tanzmusik und Gesang
Nach kurzer Zeit an der Hochschule Mozarteum Salzburg übersiedelte Andrä Wurzrainer 1954 nach St. Johann in Tirol, entschied sich damit gegen eine reine Musikerlaufbahn und für einen „sicheren“ Broterwerb. In seiner Freizeit wurde der Verwaltungsangestellte (später Wirt bzw. Getränkehändler) fortan Mitglied in vielen musikalischen Formationen und ließ neben seiner Leidenschaft für Blasmusik auch seinen weiteren Steckenpferden Tanzmusik und Gesang stets genügend Raum. So war er etwa Kapellmeister der Musikkapelle St. Johann und anschließend der St. Johanner Dorfmusikanten, musizierte viele Jahre in der Tanzmusik Kleeblatt oder sang im St. Johanner Viergesang. Es folgten nicht nur erfolgreiche Auftritte in der näheren und weiteren Umgebung, sondern auch im Ausland oder in Radio und Fernsehen.
Musikantinnen und Musikanten und Ereignisse aus längst vergangenen Tagen
Immer wieder traf er auf erfahrene Musikantenpersönlichkeiten, die ihn beeinflussten, wie z. B. den ausgezeichneten Sänger und Gitarristen Lois Landegger, mit dem und dessen Frau Traudl er viele öffentliche und private, geplante wie spontane Anlässe bestritt. In seinen Erzählungen lässt er uns in Ereignisse längst vergangener Tage eintauchen wie etwa die Bälle, bei denen der Wirtshaussaal nur dem Tanz vorbehalten war und die Tanzmusikanten von 14 Uhr bis 4 Uhr früh ihre Kondition beweisen mussten.
Auch privat ergriff der passionierte Musikant jede Gelegenheit, Stimme oder Instrumente erklingen zu lassen, hatte sogar unterwegs meist ein Instrument dabei. In der eigenen Familie gab er das Musizieren an Tochter Brigitte weiter und gründete mit ihr das Loaminger Duo (auch Habach Duo). Obendrein engagierte er sich noch als Organisator, als er jahrelang das bekannte „Zugintreffen“ veranstaltete.
Es waren unzählige musikalische Kontakte, aus denen Andreas Wurzrainer schöpfte. Daraus und zu einem kleineren Teil aus Notenmaterial und Medien erwuchs das umfangreiche Liedgut seines „lebendigen Liederbuchs“. Dabei wollte er sich stilistisch nie festlegen lassen. Seinen Volksmusikbegriff fasste er stets weit, ließ sich von den strengen Vorgaben mancher Experten nicht beeindrucken und war offen für verschiedenste Musikrichtungen.
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Der vollständige Artikel wurde im Wissenschaftlichen Jahrbuch 2020 veröffentlicht.
Der heurige 13. Band gliedert sich in drei große Themenbereiche: die COVID-19-Pandemie aus verschiedenen wissenschaftlichen Blickwinkeln; Artikel der Teilnehmer*innen der Tagung „Die Kehrseite des Unsichtbaren“ im Zuge der Ausstellung „Vergessen“ im Ferdinandeum; und diverse Beiträge zu geistes- und naturwissenschaftlichen Themen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Tiroler Landesmuseen.