Grafischer Kurs Richtung Moderne
„Formzertrümmerung“: Expressionistische Grafiken aus Tirol im Ferdinandeum
Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht im deutschsprachigen Raum ein Stil, der die Kunstwelt revolutioniert. Entgegen aller Prinzipien rund um naturgetreue Darstellungsweisen, nach denen noch der Impressionismus strebte, lenkt nun das emotionale und gedankliche Innenleben das künstlerische Schaffen. Die Person und ihre Sicht auf die Dinge rücken in den Fokus, gleichzeitig werden die Formen grober, die Bilder abstrakter und die Perspektiven aus der Angel gerückt. Kurzum: Der Expressionismus ward geboren, ein Stil so frei und subjektiv, wie es ihn bisher kaum gegeben hat.
Expressionismus in Tirol
In Tirol wirkt das Aufkommen des neuen Stils wie ein Befreiungsschlag. Die Gegenbewegung zum Impressionismus befeuert den Schaffensdrang der Künstler*innen neu und wie aus dem Nichts tauchen Arbeiten auf, deren künstlerische Qualität den deutschen Vorbildern in nichts nachsteht. Ralf Bormann, Kurator und Leiter der Grafischen Sammlung der Tiroler Landesmuseen, bewertet diese Entfaltung insofern als besonders, als das sich frühere Stilepochen in Tirol deutlich verzögert abzeichneten. „Der Expressionismus taucht plötzlich auf, und das auf sehr hohem Niveau“, stellt Bormann fest. Für die neue Sammlungspräsentation hat er sich einen detaillierten Überblick über den einige hundert Blatt starken Bestand an expressionistischen Grafiken verschafft und ist dabei auf eine Reihe beachtlicher Werke gestoßen.
Fromzertrümmerung
Ab dem 12. Mai stellt das Ferdinandeum ausgesuchte Arbeiten von Ernst Nepo, Artur Nikodem, Gerhild Diesner, Walter Honeder, Hilde Goldschmidt, Josef Prantl, Egon Schiele, Oskar Kokoschka, Herbert Boeckl und Herbert Brandl zur Schau. Vorwiegend stammen sie aus den 1920er- bis 1960er-Jahren. So lassen die Blätter auch Vergleiche zwischen dem frühen und späten Expressionismus zu, wobei der Stil in Tirol, anders als im Nachbarland Deutschland, die Nazi-Herrschaft überlebt. Vor allem aber bezeugen sie die Entwicklung einer Stilepoche, mit der das Kunstgeschehen in Tirol das Tor zur Moderne passiert und die in manchen Fällen bis in die Gegenwart nachhallt.