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18.3.2022
5 min
Giorgio Bonsanti

Michelangelos „Kruzifix“ in der Ausstellung „werden“

1965 fand Charles de Tolnay, ein in Ungarn geborener, eingebürgerter amerikanischer Gelehrter und Direktor des Museo Casa Buonarroti in Florenz, in einem Lagerraum ein kleines Holzstück, das von allen vergessen worden war und das schon andere Gelehrte vor ihm bemerkt hatten, ohne wirklich zu verstehen, was es war.

Ein kleines Stück Lindenholz

Ein kleines Stück Holz, zwanzig Zentimeter hoch. Es handelt sich um Lindenholz, das in Italien weniger verbreitet ist als Kastanie oder Pappel; in den deutschen Ländern ist es weiter verbreitet. Es ist ein Stück Holz ohne Wert, das ins Feuer geworfen werden kann. Wozu ist ein kleines Stück Lindenholz gut? Aber irgendjemand hat vor Jahrhunderten dieses kleine Stück Lindenholz in ein Meisterwerk verwandelt.

Skulptur und Zeichnung

Es handelt sich um eine Skizze von Michelangelo, die zweifelsohne in einem sehr späten Alter entstanden ist. Michelangelo, der 1475 geboren wurde, lebte bis 1564; eine Lebenszeit von neunundachtzig Jahren, die auch heute noch lang ist, aber damals wirklich ungewöhnlich. Die Skizze erinnerte an eine Reihe von großformatigen Zeichnungen Michelangelos mit Kruzifixen, die vor allem in London und Paris aufbewahrt werden und sicherlich in einem Zusammenhang stehen. Gelehrte haben darüber diskutiert, ob es sich dabei um Studien für eine Gruppe von Marmorskulpturen handelt, die nie ausgeführt wurden. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um Übungszeichnungen handelt, die auf dem Papier verbleiben sollten und bei denen Michelangelo nie daran dachte, sie in eine Skulptur umzusetzen. Auf jeden Fall ist die Übereinstimmung zwischen dem kleinen Holzstück und diesen Zeichnungen wirklich beeindruckend.

Briefwechsel

Tolnay wies vielmehr darauf hin, dass ein gewisser Lorenzo Mariottini (der sich in Rom aufhielt) in einigen Briefen von 1562 Leonardo Buonarroti (der sich in Florenz aufhielt), den Neffen Michelangelos, bat, ihm einige Holzbearbeitungswerkzeuge zu besorgen und sie dem großen Künstler nach Rom zu schicken, der plante, „ein hölzernes Kruzifix zu machen“. In einem anderen Brief von Cesare Bittino an Leonardo wird angegeben, dass das Kruzifix aus Lindenholz gefertigt werden sollte. Michelangelo hatte zweifellos ein viel größeres Kruzifix im Sinn als das, von dem wir hier berichten, aber er hat es wahrscheinlich nie angefertigt, da keine Spur davon erhalten ist. Wir können daher nicht wissen, ob das kleine Stück Lindenholz eine Studie für ein größeres Kruzifix war, wie das ganz andere, das Michelangelo als Achtzehnjähriger für die Kirche Santo Spirito in Florenz angefertigt hatte, oder ob es nur eine Idee ohne konkreten Zweck war.

Michelangelo persönlich

Sicher ist, dass dieses kleine Stück Holz ein absolut bewegendes und fast berührendes Werk ist. Wie oft bei anderen späten Künstlern, wie Tizian und Rembrandt, verliert die Form ihre Konturen und scheint in die sie umgebende Atmosphäre einzutauchen. Das kleine Kruzifix ist unvollendet, und Michelangelo hat es in einem Zustand belassen, der für uns bereits vollständig ist, weil seine „künstlerische Absicht“ (Kunstwollen) bereits in ein Objekt umgesetzt wurde. Vor allem ist klar, dass der Künstler dieses kleine Werk für sich selbst bestimmt hatte; es war nicht dazu gedacht, von anderen gesehen zu werden oder als Objekt der Verehrung für jemand anderen als Michelangelo selbst zu dienen.

Im Dialog mit dem Jenseits

In seinen letzten Lebensjahren schien der große Künstler bereits in Kontakt mit dem Jenseits zu sein. Er hatte einen Dialog mit der Ewigkeit eröffnet, die ihn erwartete, durch Gedichte, schriftliche Notizen, Zeichnungen und auch durch Skulpturen, wie die Pietà aus Marmor für den Florentiner Dom, die Pietà, die als „Rondanini“ bekannt ist und sich heute in Mailand befindet, und dieses kleine Holzkruzifix. Michelangelo schaute tief in seine Seele, um sich zu vergewissern, dass er das Paradies erhalten würde; und tatsächlich hoffte er darauf, nicht weil er es verdient hatte, sondern weil er sich der unendlichen Barmherzigkeit Gottes sicher war.

Das kleine Kruzifix aus Lindenholz, an dem die Spuren der für die Schnitzerei verwendeten Werkzeuge noch sichtbar sind (insbesondere der „Hohlmeißel“, eine Art Löffel mit scharfen Kanten), erscheint uns eher als etwas Immaterielles denn als etwas Greifbares; eher als eine Idee oder ein Gedanke denn als ein Gegenstand; etwas Jenseitiges, ein wenig wie ein Traum. Der alte Michelangelo erklärte sich bereit, seinem Schöpfer zu begegnen.

Michelangelos Kruzifix ist aktuell in der Ausstellung „werden. From Michelangelo to“ im Ferdinandeum zu sehen.

Kruzifix von Michelangelo in der Kirche Santo Spirito in Florenz
Kruzifix von Michelangelo in der Kirche Santo Spirito in Florenz
Werke von Michelangelo im Florentiner Teil der Ausstellung
© Wolfgang Lackner
11.3.2022
Cristina Acidini

Die Accademia delle Arti del Disegno in Florenz

Für die Ausstellung "werden. From Michelangelo to" ist mit der Florentiner Accademia delle Arti del Disegno eine der ältesten Kunstakademien der Welt zu Gast im Ferdinandeum.
Ohne Titel (Rennendes Pferd / Wiese / Hauender Adler), 2005 von Jörg Immendorf und "Übersicht", 1998 von Gerhard Richter in der Ausstellung "werden"
© Wolfgang Lackner
25.3.2022
Vanessa Sondermann

Wie eine „Übersicht“ zu einem kuratorischen Konzept werden kann

Die Arbeiten von Gerhard Richter können in der Ausstellung „werden“ repräsentativ zeigen, wie das Kurator*innen-Team der Kunstakademie Düsseldorf seine Werkauswahl getroffen hat.

Autor*in

Giorgio Bonsanti

Mitglied des Kurator*innenteams der Accademia delle Arti del Disegno in Florenz zur Ausstellung „werden. From Michelangelo to“
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